Johannes Kahrs malt nach eigener Aussage nicht Gegenstände oder Personen, sondern „die Erscheinung von Bildern“. Seine Gemälde, Zeichnungen, Video- und Fotoarbeiten gehen ausnahmslos von bereits existierenden Bildern – Fotos und Filmstills – aus. Im Fall des Brustbildes des jungen Mannes ist ein Foto in eine verdichtete, ja verführerische Malerei übertragen, mit nur einer wesentlichen motivischen Veränderung: Der Blick des Betrachters wird im Gemälde auf die helle Fläche eines „leeren“ Gesichts gelenkt.
Die malerische Verarbeitung mit leichten Unschärfen lässt erkennen, dass ein technisch erzeugtes, reproduziertes Bild zugrunde liegt. Der Oberflächenglanz eines Fotos oder Digitalprints ist in das lebendige Medium der Malerei überführt.
Noch 2004 (im Jahr der Erwerbung für das Albertinum), zwei Jahre nachdem dieses Porträt die Medienwelt durchlaufen hatte, erkannten Betrachter in dem hier Gesichtslosen jenen 19-jährigen, der im April 2002 sechzehn Menschen, darunter zwölf Lehrer, sowie sich selbst in einem Erfurter Gymnasium erschossen hatte. Die bestürzende Tat des Amokläufers hatte deutschlandweit Diskussionen über Gewaltbereitschaft ausgelöst.
Die Figur des jungen Mannes bietet keinen Ansatzpunkt für Erklärungen, Emotionen oder moralische Wertung; alles Individuelle ist ausgeräumt. Geblieben ist die gleichsam „entleerte“ Oberfläche eines Fotos. Jenes Gesicht, nach dessen Abbild die Gazetten 2002 fieberhaft suchten und schließlich in dieser Aufnahme fanden, enthält uns der Maler vor. Eine Konfrontation findet aber dennoch statt, auf subtile Weise. Das Bild zeigt eine mehr oder minder beliebige Person, in derer loyal-lässiger Hinwendung zum Fotografierenden ein – wenn auch minimaler Aussagewert enthalten ist. Ausgelöst werden dadurch Fragen nach den Möglichkeiten, nach Sinn, Wahrheit und Emotionalität von Bildern generell und ihrer Verwendung in den Massenmedien im Speziellen.
Text: Birgit Dalbajewa, 2021