Vorschaubild des Elementes mit der Inventarnummer OHA 038
Ort, Datierung
Dresden, Japanisches Palais der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und Umgebung, 20.5.2021
Inventarnummer
OHA 038
Sprache
Egidio Marzona erläutert die Entstehung des Konzepts für das Archiv der Avantgarden und entfaltet dabei die besondere Bedeutung des Buchs Die Kunstismen von El Lissitzky und Hans Arp sowie des Mediums Film. Er spricht über seine Vorstellungen für die Präsentation des Archivs sowie über die Bedeutung des Sammelns und Schenkens.
Egidio Marzona (1944 Bielefeld) ist Sammler. Sein Archiv der Avantgarden schenkte er 2016 den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden.

Zitation:
Ein revolutionäres Archiv. Egidio Marzona über das Konzept zum Archiv der Avantgarden, in: WIR SIND AVANTGARDE! Ein Oral-History-Archiv zum Archiv der Avantgarden - Egidio Marzona (ADA), Staatliche Kunstsammlungen Dresden. Von Monika Branicka und Pirkko Rathgeber, 2024, DOI: www.doi.org/10.58749/skd.oc.6620027

Copyright:
© 2024 Archiv der Avantgarden - Egidio Marzona, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Konzept- und Gesamtprojektleitung, Produktionsleitung, beteiligte Protagonistinnen und Protagonisten

© für die abgebildeten Werke von: Le Corbusier: VG Bild-Kunst, Bonn 2024; von Leonore Mau: bpk / S. Fischer Stiftung; von Unica Zürn: Brinkman & Bose Berlin

Wir danken allen Inhaber:innen von Rechten an hier gezeigten Werken der bildenden Kunst für die freundliche Genehmigung der Veröffentlichung. Rechteinhaber:innen, die trotz intensiver Recherche nicht ausfindig gemacht werden konnten, sind gebeten, die SKD zu kontaktieren.

[00:00:24]

Frage: Herr Marzona, lässt sich bei einem Archiv von einem Konzept sprechen? [00:00:32]

 

EM: Durchaus. Das Archiv hat im Laufe der Entwicklung eine ziemlich klare Form und Orientierung gefunden. Und das waren halt, was die Kunst anbelangt, die Kunstismen, die das ganze 20. Jahrhundert dominieren. Es hat ja niemals vorher und auch nicht im Nachhinein, wenn wir nach 21 Jahren auf das 20. Jahrhundert zurückblicken, so etwas gegeben. Also die Zeit der Avantgarden ist vorbei und auch die Zeit der Ismen ist vorbei. [00:01:14]

 

Frage: Wie ist Ihr Konzept für das Archiv der Avantgarden entstanden? Wie hat es sich entwickelt? [00:01:19]

 

EM: Das hat sich über viele Jahre entwickelt. Es gab nicht von Anfang an eine kristallklare Idee, sondern es hat sich über einen relativ langen Zeitraum entwickelt. [00:01:44]

 

Frage: Gibt es Vorbilder für Ihr Archiv? [00:01:48]

 

EM: Direkte Vorbilder gibt es nicht. Aber ich habe natürlich die Welt bereist und mir also auch viele Archive angeschaut, sei es Getty[1] oder Beinecke[2] oder auch hier in Europa viele – auch private – Archive. Und letztendlich hat sich dann natürlich unter diesen Einflüssen bei mir auch die Idee, die endlich zu dem Ergebnis geführt hat, wie das Archiv jetzt ausschaut und aufgebaut ist, entwickelt. [00:02:32]

 

Frage: Warum überhaupt arbeiten Sie am Zusammentragen eines Archivs? Was interessiert Sie dabei? [00:02:40]

 

EM: Die Endprodukte, also zum Beispiel die Designobjekte, sind ja auch [Ergebnis eines] Prozesses, der sich in vielen Bereichen im Archiv, in Entwicklungen und Denkmodellen herauskristallisiert hat. Das sind Endprodukte, die für den Gebrauch bestimmt sind oder dafür, eine bestimmte Ästhetik zu befriedigen. Und das Interessante ist eben das Zusammenspiel mit den Dokumenten, mit den Zeichnungen, mit den Skizzen, mit den Vorbereitungen, die dann endlich zu diesem Endstück geführt haben. Das alles spiegelt sich im Archiv wider. [00:03:26]

 

Frage: Wie würden Sie Ihre Sammlungspraxis beschreiben? [00:03:31]

 

EM: Demokratisch. Also sie ist auf keinen Fall in dem traditionellen Museumsmodus, sie ist überhaupt nicht hierarchisch. Sondern das Material ist sehr vielseitig. Sei es einmal die Dokumente, die verschiedenen Bibliotheken, die Sammlungen an Plakaten, aber auch die Kunstwerke und die Designobjekte. Und das ist etwas, was, glaube ich, bis jetzt noch nicht in anderen Sammlungen passiert ist. Also es war für mich durchaus eine Anregung, dass das MoMA[3] wohl mit als Erste neben dem Stedelijk Museum[4] – die haben es ja auch sehr früh, der Sandberg[5] hat das ja früh gemacht, dass er neben Kunstwerken auch Designobjekte und Möbel erworben hat und ausgestellt hat. [00:04:44]

 

Frage: Was wird möglich durch dieses Zusammentragen der unterschiedlichen Materialien? Was wird möglich durch das Archiv? [00:04:54]

 

EM: Das Archiv erklärt einmal Prozesse. Es zeigt Prozesse. Und es erzählt Geschichten. Das sind die beiden wichtigsten Möglichkeiten, die das Archiv bietet. [00:05:10]

 

Frage: Warum verstehen Sie das ADA als ein Archiv und nicht als eine Kunstsammlung? [00:05:18]

 

EM: Es hat mit Archiv und mit Kunstsammlung zu tun. Aber der wesentliche Anteil an Materialien – und für mich natürlich auch an wichtigen Arbeitsmaterialien – bedeutet das Archiv. Und deswegen war ich nie so vermessen, das als Kunstsammlung zu bezeichnen. [00:05:52]

 

Frage: Was kann ein Archiv, was eine Kunstsammlung nicht kann? [00:05:57]

 

EM: Eine Kunstsammlung vermittelt Emotionen. Ein Archiv vermittelt Wissen. [00:06:10]

 

Frage: Worin sehen Sie das Revolutionäre in Ihrem Archiv? [00:06:14]

 

EM: Revolten sind dazu da, etwas umzukrempeln, etwas Neues zu entwickeln, etwas zu suchen. Ich bin als junger Mensch in einer Zeit groß geworden, wo sich sehr, sehr viele Dinge revolutionär entwickelt haben. Sei es die Maiaufstände in Paris. Damit hat es ja letztendlich angefangen. Aber auch die Entwicklungen und Studentenrevolten in Deutschland und auch vor allen Dingen in Italien. Aus diesen Entwicklungen habe ich eine gewisse Kraft oder Deutung gewonnen. Andererseits sind natürlich viele dieser Entwicklungen auch in Katastrophen geendet. Zum Beispiel die RAF, die sich über das Legale erhoben haben, um unter Inkaufnahme von Menschenleben ihre Interessen durchzusetzen. Revolution kann eine schöne Sache sein, kann aber auch sehr problematisch sein. [00:07:37]

 

Frage: Was bedeuten diese revolutionären Potenziale für die Neueinrichtung des ADA im Blockhaus? [00:07:46]

 

EM: Es ist natürlich eine bestimmte Radikalität. Der normale Archivar, der mit einer traditionellen Ausbildung hier in diese Räume kommt, der wird wahrscheinlich rückwärts wieder rauslaufen, weil das so gar nicht den klassischen Vorstellungen entspricht. Wahrscheinlich gab es zu Zeiten von Aby Warburg[6], als er seine Konfrontationen darstellte, in dem Atlas[7], eine ähnliche Reaktion der traditionellen Kunsthistoriker. [00:08:34]

 

Frage: Wie stellen Sie sich das praktisch vor? Wie überträgt sich das Revolutionäre auf die physische Sortierung, auf die Einrichtung des Blockhauses? Und welche Aspekte spielen eine Rolle bei der Umsetzung? [00:08:47]

 

EM: Von Anfang an habe ich mir immer, weil das Archiv aus so unterschiedlichen Materialien besteht, eine Art Schaulager, oder sagen wir mal eine Inszenierung des Archives gewünscht. So kann man es vielleicht am besten formulieren. Das hat damit zu tun, dass in der heutigen Zeit der sinnliche Aspekt immer stärker verloren geht in der Gesellschaft. Die Leute hocken ja überwiegend vor ihrem Rechteck, dem Computer. Und das Objekt, das reale, physisch erlebte Objekt rückt immer mehr ins Abseits und wird gar nicht mehr gesehen und empfunden und gerochen und mit allen Sinnen erfasst. Und das war mir immer ein ganz, ganz wichtiger Aspekt, weil ich selbst ein analoger Mensch geblieben bin und diese Sensation lebe und erlebe und ich eigentlich mich amüsiere über die Sucht nach Bildern und Information, ohne das haptische, das sinnliche Erleben dabei zu haben. [00:10:27]

 

Frage: Wie ist Ihre Vorstellung von dem Schaulager? [00:10:32]

 

EM: Wie gesagt, ich würde es als Inszenierung bezeichnen. Das heißt, dass es der vorhandenen Ordnung folgt. Das heißt die Materialien zu den unterschiedlichen Bereichen – seien es die Ismen oder im interdisziplinären Bereich eben Disziplinen wie Musik, Theater, Tanz oder Philosophie –, dass alle Materialien zu diesem Thema in einem Container oder in einer – wie kann man das nennen – einer Abteilung versammelt sind und so arrangiert sind, dass sie griffbereit und sichtbereit dem Publikum zur Verfügung stehen. [00:11:38]

 

Frage: Lassen Sie uns ins Detail gehen. Wie stellen Sie sich diese Inszenierung vor? Wie wären die Objekte darin physisch arrangiert? [00:11:47]

 

EM: Ich kann mir vorstellen, dass es unheimlich spannend ist, Kabinette zu bilden, wo die Archivalien – in Boxen natürlich, die müssen ja geschützt sein –, wo die entsprechenden Bibliotheken oder Zeitschriften oder Publikationen, die Erstausgaben, die raren Dinge geordnet und versammelt sind. Aber auch Plakate, Kunstwerke, selbst Möbel würde ich dazu gruppieren. So dass der Besucher in einem Parcours von ein, zwei Stunden die Avantgarden des 20. Jahrhunderts durchschreiten kann. Und sich hier informieren kann und dort einen Blick hinwenden kann und eine andere Sache vielleicht angreifen kann. Diese Möglichkeiten wünsche ich mir. [00:12:53]

 

Frage: Sie sprechen von Kabinetten. Wie stellen Sie sich die Ausstellungsarchitektur vor? [00:13:02]

 

EM: Ich habe jetzt keine konkrete Idee über eine Ausstellungsstruktur. Es gab mal, von Architekten vorgeschlagen, dieses sogenannte Brain. Das sich wahrscheinlich an der Bibliothek von Aby Warburg orientiert, davon gehe ich mal aus, weil die ja auch dieses Ovale hatte. Aber für mich kann das ein Labyrinth sein oder auch eine mobile Installation. Also ganz konkrete Vorstellungen habe ich nicht. Aber es muss pragmatisch, rational und vor allen Dingen funktional sein. Und ... Wie kann man das eingrenzen? Es gab natürlich sehr viele Überlegungen. Ich bin niemals auf ein sehr gutes Beispiel gestoßen bei meinen vielen Besuchen in anderen Bibliotheken, das mich begeistert hätte. Aber es muss etwas sein zwischen Funktional und Erlebnis. Da brauche ich jetzt bei den weiteren Entwicklungen einen klugen Partner, um gemeinsam sozusagen die Möglichkeiten auszuloten und zu erkennen und dann umzusetzen. [00:14:57]

 

Frage: Lassen Sie uns über die Bezeichnung „Archiv der Avantgarden“ sprechen. Das Archiv hieß nicht immer so. Wie kamen Sie auf den heutigen Namen? [00:15:05]

 

EM: Das weiß ich nicht. Das Archiv hieß ursprünglich immer Archiv Marzona. Und erst im Laufe der Zeit hat es sich auf diesen Begriff zugespitzt, weil der ja in diesem Archiv sehr deutlich zu finden ist, die Avantgarden. Diesen Begriff sehe ich durchaus auch als umstritten an. Also es ist nicht eine Monstranz, die ich da vor mir hertrage. Die Avantgarden, das ist ja eigentlich auch ein kriegerischer Begriff, er kommt ja aus dem Militärischen. Und irgendwie kam mir die Idee, das ist die passende Bezeichnung für das Archiv. [00:16:03]

 

Frage: Warum wird im Titel der Plural „Avantgarden“ benutzt? [00:16:09]

 

EM: Das ist nicht bewusst entstanden, aber trotzdem erscheint es mir heute als logisch, weil es sehr viele unterschiedliche Avantgarden gab. Oder auch rivalisierende Meinungen, die sich als Avantgarden empfunden haben. [00:16:34]

 

Frage: Geht es darum, die Avantgarden als Bewegungen zu verstehen? [00:16:40]

 

EM: Ja, auf jeden Fall. Aus meiner Sicht sind Avantgarden immer Bewegungen. [00:16:50]

 

Frage: Unter dem Begriff der Avantgarde werden in der Kunst- und Literaturgeschichte zunächst einmal die Kunstismen zusammengefasst, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkamen. In Ihrer Sortierung im Archiv gibt es noch andere Ebenen. Welche? [00:17:07]

 

EM: Es gibt vor allen Dingen das Interdisziplinäre. Das aber ganz oft im Zusammenspiel mit den Kunstismen steht. Also sei es die Literatur, die es im Expressionismus, aber auch in der bildenden Kunst gibt. Das nur als ein Beispiel. Da gibt es sehr viele Beeinflussungen und Bewegungen und (...) auch Rivalitäten natürlich. [00:17:43]

 

Frage: Peter Bürger fasst die Kunstismen in seiner Theorie der Avantgarde als Kritik an vormaligen Kunststilen auf, aber auch als Problematisierung der Institution Kunst. Was hat Sie am Sammeln der Avantgarden interessiert? [00:18:03]

EM: Mich hat vor allen Dingen in den ersten Begegnungen mit den frühen Kunststilen des 20. Jahrhunderts diese ungeheure Breite interessiert. Also wenn wir anfangen vom geometrischen Jugendstil – so beginnt ja das 20. Jahrhundert, für mich auf jeden Fall –, und dann über die Entwicklung des Futurismus, Expressionismus, Dada, die verschiedenen Spielarten des Konstruktivismus und so weiter. Das ist eine so reiche, breite, sehr differente Bewegungsgeschichte, die mich fasziniert hat. Und da war mir dieses Buch Die Kunstismen von Lissitzky[8] und Arp[9] sehr, sehr hilfreich. Das – und das kann ich nicht verhehlen – für mich durchaus auch einen – humoristisch ist zu viel gesagt, aber einen ironischen Aspekt aufweist. [00:19:24]

 

Frage: Welche Rolle spielt die historische Entwicklung, die Genese der Avantgarde? [00:19:31]

 

EM: Du meinst jetzt vor dem Beginn des 20. Jahrhunderts? Also die Romantik, der Barock ...? Das waren ja viel, viel größere Zeitabschnitte, in denen diese Kunst eine Rolle gespielt hat. Die waren wesentlich langlebiger als die Kunstismen im 20. Jahrhundert, die ja in rascher Folge auftraten. Also die Dadaisten haben eine Handvoll Jahre existiert und dann gab es später vielleicht ... Viele behaupten, dass Fluxus sozusagen eine Art Neodada ist oder eine Wiederaufbereitung der Dada-Bewegung. Das hat also eine ganz, ganz andere Bedeutung bekommen im 20. Jahrhundert. Fast wie ein, wenn ich das retrospektiv sehe, wie ein Film, der abläuft. [00:20:50]

 

Frage: Was bedeutet der avantgardistische Impuls für die Konzeption Ihres Archivs? Welche Potenziale liegen in ihm, die es für das ADA und seine Präsentation aufzunehmen gilt? [00:21:04]

 

EM: Das ist schwer zu beantworten, weil diese Dinge bei mir sozusagen in einen Automatismus gekommen sind, in der engen Verbundenheit zu diesen ganzen Bewegungen und Entwicklungen und auch Materialien. So dass ich das in der Realität kaum noch trennen kann. Also es ist so etwas Traumwandlerisches. [00:21:32]

 

Frage: Bitte erzählen Sie über das Künstlerbuch Kunstismen von Hans Arp und El Lissitzky, über seinen Aufbau und seine Bedeutung für Ihre Arbeit am ADA. [00:21:44]

 

EM: Es ist chronologisch aufgebaut. Obwohl es, wenn man es genau studiert, nicht ganz stimmig ist – es gab ja auch große Auseinandersetzungen zwischen den beiden Autoren Arp und Lissitzky. Aber es ist ein chronologischer Abriss eines Jahrzehnts, also von 1914 bis 1924, und der avantgardistischen Kunstentwicklungen, die sich in dieser Zeit in irgendeiner Gruppierung oder Bezeichnung gefunden haben. [00:22:26]

 

Frage: Welche weiteren Quellen (z. B. weitere Bücher) haben Sie hinzugezogen, um die Systematik des ADA zu präzisieren? [00:22:36]

 

EM: Nein, das Konzept lag ja auf der Hand. Und hat sich dann im Laufe der weiteren Entwicklung des Jahrhunderts basierend auf dem Buch von Arp und Lissitzky immer weiterentwickelt. Also das Buch beschreibt ja nur ein Jahrzehnt von einem Dutzend. Und was sich dann später entwickelt hat, hat sich ohne mein Zutun sozusagen oder ohne mein ... Das war leicht zu finden dann, die weiteren Entwicklungen. Das ging ja dann im Wesentlichen über den Surrealismus weiter. Der sich abgekoppelt hat von den Dadaisten und sich zu einer wirklich sehr, sehr starken intellektuellen Bewegung vor allen Dingen im französischsprachigen Bereich entwickelt hat. Und dann gab es nach dem Zweiten Weltkrieg die große Gegenbewegung in der abstrakten Malerei, sprich abstrakter Expressionismus in Amerika und Informel und Tachismus in Europa. Und daran angeschlossen haben sich eben andere Entwicklungen und vollkommen gegenläufige Meinungen und Formen oder Formalismen entwickelt. [00:24:30]

 

  • Frage: Warum ist die Ordnung der Ismen für Sie so zentral? Und welche Rolle spielt dabei die Geschichte der Ismen? [00:24:41]

 

EM: Weil sie all diese Phänomene in der Kunst des 20. Jahrhunderts in einer Chronologie einordnet und beschreibt und eingrenzt. Es ist eine Geschichte, der man blind folgen kann. Nein, nicht blind. Man muss ja sehen können. [lächelt] [00:25:10]

 

Frage: Die Kunstgeschichte ordnet die Vielfalt der Kunst auch anhand von Stilrichtungen und Gattungen. Welche Bedeutung haben die für Sie und für Ihr Archiv? [00:25:21]

 

EM: Es gibt natürlich Vorlieben für mich. Oder besser gesagt, es gab für mich Vorlieben und Präferenzen in den verschiedenen Kunstrichtungen und Tendenzen, die ich ja auch früher in einer anderen Zeit gesammelt habe. Und daran kann man auch ablesen, wo meine Vorlieben begründet lagen. Das war vor allen Dingen – nicht die konkrete Kunst, aber die rationale Kunst, sagen wir mal, die konzeptuelle Kunst und die Minimal Art. Die ja auch reduziert auf ein Minimum künstlerische Phänomene sichtbar macht. [00:26:25]

 

Frage: Ist dieses Ordnungsprinzip aus Ihrer Sicht heute noch gültig? [00:26:29]

 

EM: Für mich waren diese Gattungen immer ein Ordnungsprinzip. Und es war auch eine Orientierung. Das ist auch etwas, das mir in der heutigen Zeit fehlt: Heute wird sicher auch gute Kunst produziert. Aber sie ist viel schwieriger zu finden als zu der Zeit, als ich begonnen habe, mich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen, und meine Neugier für die Kunst geweckt war. Diese Ordnung spiegelte sich natürlich auch sehr stark im Programm der Museen, in den Galerien, aber auch bei befreundeten Personen, die sich in gleicher Weise wie ich für Kunst interessierten und sammelten, wider. Und da entwickelten sich auch Gespräche und Meinungen, die mich doch auch beeinflusst haben und mir geholfen haben, meinen Weg zu finden. [00:28:03]

 

Frage: Gibt es Grenzfälle, die sich keiner der Avantgarden zuordnen lassen? Wie gehen Sie mit diesen Fällen um?

[00:28:13]

 

EM: Das ist ein spannendes Thema. Neben den Kunstismen gibt es ja auch Personen, Künstler, die man nicht unbedingt irgendwo einordnen will oder kann, und die es wahrscheinlich auch selbst nicht wollen oder wollten. Der Kunsthistoriker Willi Bongard[10] hat mal eine Bezeichnung dafür gefunden und diese Personen oder künstlerischen Produzenten als individuelle Mythologien bezeichnet. Diesen Begriff habe ich für das Archiv bis jetzt noch nicht übernommen. Aber es lohnt sich, glaube ich, darüber nachzudenken. [00:29:23]

 

Frage: Welche Künstler:innen oder Werke würden Sie im Feld der individuellen Mythologien sehen? [00:29:29]

 

EM: Eine ganz entscheidende Figur ist natürlich Joseph Beuys[11], eine zentrale Figur. Ich glaube, Francis Bacon[12] ist auch sehr schwer einzuordnen. Giacometti[13] ist auch so ein Fall. Da gibt es doch durchaus eine ganze Reihe. Giacometti läuft bei uns zum Beispiel im Archiv unter Surrealismus, weil er mit seinen frühen Werken aus dem Surrealismus kam. [00:30:13]

 

Frage: Arp und Lissitzky beschreiben in ihren Kunstismen einen Fortschritt. Spielt die Fortschrittserzählung für Ihre Archivgliederung eine Rolle? [00:30:23]

 

EM: Eigentlich nicht. Fortschritt hat auch etwas mit Verschwinden zu tun. Oder Entschwinden. [00:30:37]

 

Frage: Wie würden Sie die Gliederung Ihres Archivs beschreiben? Ergeben sich daraus kunsthistorische Erzählungen mitsamt ihren Verflechtungen? Welche Aspekte sind besonders interessant? [00:30:47]

 

EM: Da spielen die unterschiedlichsten Aspekte eine Rolle. Es sind natürlich dann Geschichten, die ich finde, die ich also auch in der Anordnung versuche weiterzuvermitteln. Aber es gibt sehr viele unterschiedliche Prinzipien, nach denen die Autoren oder Vorbesitzer diese Materialien benutzt und geordnet haben. Für mich selbst ist es oftmals ein Spiel. Es gibt kein festes Konzept. Es kommt auf den jeweiligen Fall an. [00:31:35]

 

Frage: Was meinen Sie genau, wenn Sie von einer horizontalen Ordnung des Archivs sprechen? [00:31:42]

 

EM: Die horizontale Ordnung des Archivs ist entstanden, wie ein Film entsteht. Das heißt, es ist eine Geschichte, die erzählt wird, oder es sind verschiedene Kapitel oder Fragmente, die aber letztlich im Horizontalen ihre Entwicklung finden. Das hat mich auch in dem Buch von Arp und Lissitzky lange beschäftigt, dass Film dort auch als Ismus aufgenommen wurde. Der Film ist ja ein Phänomen, das ja erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckt und entwickelt worden ist. Das aber das 20. Jahrhundert wie kein anderes Medium bedeutet hat. [00:32:54]

 

Frage: Welche Bedeutung haben für Sie einzelne Werke im/für das Archiv? [00:32:59]

 

EM: Einzelne Werke können mir Freude bereiten in der Betrachtung. Aber ich sehe eigentlich den Zusammenhang als etwas Fruchtbareres, sowohl die Konfrontation mit anderen Dingen als auch die Geschichte. [00:33:27]

 

Frage: Können Kunstwerke eine herausragende Position einnehmen oder sind sie eher als Verknüpfungspunkte im Netz des Archivs zu betrachten? [00:33:37]

 

EM: Beides. Sie können, sie können ein Vorbild sein, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie können aber Teil auch einer Geschichte oder eines Dramas sein. [00:33:53]

 

Frage: Das Interdisziplinäre bezeichnen Sie auch als „das ganze Leben“. Gibt es im Archiv eine Dichotomie von Kunst und Nichtkunst? [00:34:03]

 

EM: Das ist für mich sehr schwer zu beantworten. Denn ich lebe so eng verknüpft mit der Kunst oder was man unter Kunst versteht. Da muss ich lange drüber nachdenken. Aber die Frage sollte man mal festhalten. [00:34:31]

 

Frage: Sie haben Ihr Archiv 2016 den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden geschenkt. Hat das Sammeln etwas mit dem Schenken zu tun? [00:34:41]

 

EM: Nicht unbedingt. Also Sammeln hat mit Schenken direkt nichts zu tun, Sammeln hat etwas mit Verantwortung zu tun. [00:34:54]

 

Frage: Begleitet Sie das Sammeln auch nach der Schenkung? [00:35:01]

 

EM: Für mich ist Sammeln ein Prozess, der, solange ich lebe, nicht enden wird. Und ich habe alle meine Projekte in diesem Bereich auch als Projekte gesehen. Und sie gehen weit über das, was ich erreichen will und kann, hinaus. [00:35:29]

 

Frage: Sie betrachten die Schenkung als nicht abgeschlossen. Welche Fäden nehmen Sie auf? [00:35:37]

 

EM: Ich kann mir nur wünschen, dass dieses Beispiel der Schenkung einen Nachhall in der Gesellschaft hat, findet. Und dass es Nacheiferer gibt, die sich an diesen Ideen und an dem Projekt beteiligen. [00:36:00]

 

 

 

Sachindex

 

Abstrakter Expressionismus  9

Avantgarde/n  7

Dada, Dadaismus  7, 8

Expressionismus  7

Film  8, 12

Fluxus  8

Futurismus  7

Individuelle Mythologien  11

Informel, Art informel, Informelle Kunst, Informelles  9

Jugendstil  7

Konstruktivismus  7

Konzeptkunst, Conceptual Art, Konzeptuelle Kunst, Konzeption  10

Kunstismen, Ismen  2, 7, 8, 10, 11

Minimal Art, Minimalismus, Minimalism, minimalistische Kunst  10

Surrealismus  9

Tachismus  9

 

 

Personen

 

Arp, Hans  6

Bacon, Francis  8

Beuys, Joseph  8

Bongard, Willi  8

Giacometti, Alberto  8

Lissitzky, El  6

Sandberg, Willem  3

Warburg, Aby  3

 

 

Institutionen (Museen, Galerien, Verlage, Unternehmen …)

 

Beinecke Rare Book & Manuscript Library, New Haven  2

Getty Research Collections, Los Angeles  2

Museum of Modern Art – MoMA, New York  3

Stedelijk Museum Amsterdam  3

 

 

Bücher, Publikationen, Zeitschriften

 

Arp, Hans und El Lissitzky

Die Kunstismen  6, 9

Bürger, Peter

Theorie der Avantgarde  5

Lissitzky, El und Hans Arp

Die Kunstismen  6, 9

Warburg, Aby

Bilderatlas Mnemosyne  4

 

 

[1] Getty Research Collections, Los Angeles https://www.getty.edu/research/collections/

[2] Beinecke Rare Book & Manuscript Library, New Haven https://beinecke.library.yale.edu

[3] Museum of Modern Art, New York https://www.moma.org/

[4] Stedelijk Museum Amsterdam https://www.stedelijk.nl/en

[5] Willem Sandberg (1897 Amersfoort, Niederlande als Jonkheer Willem Jacob Henri Berend Sandberg – 1984 Amsterdam)

[6] Aby Warburg (1866 Hamburg – 1929 ebd.)

[7] Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne (Mnemosyne, Bilderreihe zur Untersuchung der Funktion vorgeprägter antiker Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens in der Kunst der europäischen Renaissance; unvollendet) https://warburg.sas.ac.uk/archive/bilderatlas-mnemosyne

[8] El Lissitzky (1890 Potschinok, Russland als Eliezer Lissitzky – 1941 Moskau)

[9] Hans Arp, auch Jean Arp (1886 Straßburg als Hans Peter Wilhelm Arp, auch Jean Arp – 1966 Basel, Schweiz)

[10] Willi Bongard (1931 Alendorf – 1985 bei Nümbrecht)

[11] Joseph Heinrich Beuys (1921 Krefeld – 1986 Düsseldorf)

[12] Francis Bacon (1909 Dublin – 1992 Madrid)

[13] Alberto Giacometti (1901 Borgonovo, Schweiz – 1966 Chur, Schweiz)

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