Vorschaubild des Elementes mit der Inventarnummer OHA 026
Ort, Datierung
Berlin, Haus Marzona, 24.11.2020
Inventarnummer
OHA 026
Sprache
Birgit Hein spricht über die Rolle von Frauen und die Bedeutung des Feminismus in der experimentellen Filmszene der sechziger bis frühen neunziger Jahre und erläutert dabei ihre eigene Haltung innerhalb der feministischen Diskurse.
Birgit Hein (1942 Berlin als Birgit Michelis - 2023 ebd.) war Filmemacherin, Filmwissenschaftlerin, Performancekünstlerin und Hochschullehrerin.
Mit ihren Filmen (seit 1966), Performances, dokumentarischen Filmessays und filmwissenschaftlichen Publikationen gilt sie als eine der entscheidenden Wegbereiterinnen des deutschen Underground- und Experimentalfilms.
Das Archiv von Birgit Hein befindet sich im Archiv der Avantgarden (ADA).

Zitation:
Archiv XSCREEN. Teil 4: Birgit Hein im Gespräch über Frauen und Feminismus in der experimentellen Filmszene, in: WIR SIND AVANTGARDE! Ein Oral-History-Archiv zum Archiv der Avantgarden - Egidio Marzona (ADA), Staatliche Kunstsammlungen Dresden. Von Monika Branicka und Pirkko Rathgeber, 2024, DOI: www.doi.org/10.58749/skd.oc.6620038

Copyright:
© 2024 Archiv der Avantgarden - Egidio Marzona, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Konzept- und Gesamtprojektleitung, Produktionsleitung, beteiligte Protagonistinnen und Protagonisten

© für die abgebildeten Werke von Hans Arp, Ray Johnson, Gerrit Rietveld und Georges Vantongerloo: VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Wir danken allen Inhaber:innen von Rechten an hier gezeigten Werken der bildenden Kunst für die freundliche Genehmigung der Veröffentlichung. Rechteinhaber:innen, die trotz intensiver Recherche nicht ausfindig gemacht werden konnten, sind gebeten, die SKD zu kontaktieren.

#00:00:37#

 

Frage: Frau Hein, Sie sind seit den späten 1960er Jahren als experimentelle Filmemacherin bekannt. In diesem Bereich gab es sehr wenige Frauen. Und noch weniger solche, die feministische Filme machten. #00:00:46#

 

BH: Es gibt einen Film von mir, der heißt Die unheimlichen Frauen[1]. Und der ist von ‘95. Also ‘91 habe ich den gemacht. Nach der Trennung von meinem Exehemann[2] habe ich ja eine ganz eigene Filmkarriere begonnen. Und dieser Film basiert auf dem Thema Feminismus. Also unsere oder meine Filme haben nicht das Thema Feminismus. Dieser eine ist sehr deutlich aus einer [feministischen] Basis entstanden. #00:01:24#

 

Frage: Und Ihr Film Baby I Will Make you Sweat? #00:01:29#

 

BH: Ja, der ist ja nun schon später. Und das ist kein Film über Feminismus. Sondern das ist eine alternde Frau, die in die Karibik fährt und einen Liebhaber hat und das Leben noch mal neu genießt. Darum geht es. Aber das ist kein feministischer Film mehr.[3] Aber in den Unheimlichen Frauen, da ist alles drin. Mein ganzer Zorn. Weil mir ja dann klar geworden ist – obwohl ich in einer aufgeklärten Familie aufgezogen worden bin –, dass doch immer die Männer mehr galten. Als ich Professorin wurde, fragte meine Mutter, ja, und wer ist dein Chef? [verdreht die Augen] Und ich habe gesagt, ich habe keinen Chef. Ich bin mein eigener Chef. Das konnte die kaum begreifen, realisieren. Denn Frauen haben doch immer noch einen Chef. Zum Beispiel. [lacht] #00:02:43#

 

Frage: Kannten Sie Künstlerinnen wie VALIE EXPORT und andere, die sich mit diesem Thema auseinandergesetzt haben? #00:02:51#

 

BH: Ich war nicht so explizit. Wir haben zusammen noch, Wilhelm und ich, einen Film gemacht, na wie hieß der, jetzt habe ich schon Probleme mit dem Titel: Die Kali Filme[4], Kali-Frauenfilm. Der besteht aus einem Zusammenschnitt aus Super-8-Filmen von Frauengefängnisfilmen. Und das Entscheidende ist in diesem Film ... Also der beginnt so, diese Populärform des Frauengefängnisfilms: Die Frauen kämpfen miteinander und sind wie wild im Gefängnis untereinander zugange. Und am Ende wenden sie sich gegen die Wärter. 1989 habe ich den dann aufgeführt. Und da kam auf einmal unheimliche, aggressive Gegenwehr, Gegenkritik von den Feministinnen. Und zwar unter dem Motto „Frauen tun einander nichts“. Damals war ja noch Alice Schwarzer: „Frauen sind Opfer“, „Frauen wollen keinen Sex“. Das war ja eine furchtbare Form von Ideologie. Also feministischer Ideologie. Fand ich jedenfalls. Und deswegen habe ich in meinem Film Die unheimlichen Frauen natürlich Frauen als Opfer gezeigt. Und vor allen Dingen aber Frauen als Täterinnen. Frauen sind nicht nur Opfer, sondern Täterinnen. #00:04:24# Ich habe die KZ-Frauen gezeigt. Und die Soldatinnen. Es gab ja Dokumentarfilme, die habe ich recherchiert schon lange vorher für den Film: Dokumentarfilme auch zum Zweiten Weltkrieg, wie sehr da die Frauen aktiv waren. Und dann kommt eben diese doofe Ali…, Entschuldigung, Frau Schwarzer, und sagt, „Frauen sind nur Opfer“. Und für mich waren Frauen eben genauso aktive Täterinnen. Und „Frauen wollen kein Sex“. Was? Was ist das denn? [lacht] Also, Die unheimlichen Frauen war damals so richtig so ein Knaller. Aber viel wichtiger war dann eben, 1991 habe ich angefangen, meinen eigenen ersten Film zu machen, also ohne W+B, also Birgit Hein eben, wie gesagt, Die unheimlichen Frauen. Und da habe ich meine ganze Wut ... die ist auch in dem Film enthalten. Okay, das zum Thema Feminismus. #00:05:38# Und die Frauen ... Ich hatte Freundinnen, die das erste Frauenfilmfestival gemacht haben. Die waren so unglücklich, dass ich nicht so in der Ideologie mitmachte. Karin Jurschick[5] – ich weiß nicht, ob ihr die kennt. Die war so unglücklich, dass ich nicht so eine richtige, brauchbare – für diesen Zusammenhang brauchbare – Feministin bin, war. Ich musste den Film von Cléo Uebelmann verteidigen.[6] Kennt ihr den? Nein? Den wahnsinnig berühmten Film, den ersten Bondage-Film, den es gibt. #00:06:15#

Frage: Was hat sich verändert, als Sie anfingen, allein zu arbeiten? #00:06:21#

 

BH: [lacht] Viel hat sich nicht verändert. Als Die unheimlichen Frauen dann auf dem Internationalen Forum[7] gezeigt wurden, im sogenannten wichtigsten Programm – ich hatte die den Gregors[8] eingereicht –, da sagte Ulrich Gregor schon zu mir, ich glaube, wir müssen nochmal völlig neu nachdenken. Und das hieß, dass sie auch die früheren Filme wie Love Stinks[9] und so weiter, die vorherigen Filme, die noch unter W+B liefen – die sind alle inzwischen mir zugeordnet. Also auch Love Stinks, den wir in New York gedreht haben, in unserer Zeit des Stipendiums. Im Grunde ist eigentlich für die Fachleute inzwischen klar, die sind alle schon auch von mir gemacht. Und wenn man jetzt die Ordner sieht, die in dem Archiv der Avantgarden sind, in dem Ordner kommt sehr deutlich vor ein Scriptplan, den ich auf Millimeterpapier angefertigt habe für den Film Love Stinks. Das ist schon sehr deutlich mit meiner Handschrift. Also wer hat denn da den Schnitt gemacht? Wer hat den Film auch organisiert am Ende, so zusammengestellt? #00:07:36# Also das ist nun mal so. Und ich sehe heute auch meinen Anteil an Rohfilm[10] eigentlich auch beherrschender, als er wahrgenommen wird. Ihr müsst euch das vorstellen, damals als, um ‘68, also ’67, ‘68, da war ganz klar, die Dominierung immer noch: Wenn ein Mann dabei ist, dann ist der wichtiger als die Frau. Man sehe Ulay Abramović[11]. Heute ist Abramović die Große und der Ulay ist platt. Den gibt es praktisch gar nicht mehr. Aber in der Zeit war das einfach noch überhaupt nicht denkbar. Ich erinnere mich immer wieder, dass es auch schon mal hieß, der Wilhelm bringt seine Frau mit, bei so einer Veranstaltung. #00:08:32# Das waren noch schwierigere Zeiten. Und ich bin ja auch in den fünfziger Jahren zur Schule gegangen. Ich habe ‘62 Abitur gemacht. Und die meisten Mädchen aus meiner Klasse wollten Volksschullehrerin werden oder so was. Ich war die Einzige, die gesagt hat, ich werde Künstlerin, ich werde berühmte Künstlerin – die, die das Selbstbewusstsein schon hatte. [lacht] Ich habe die auch dafür verachtet. #00:09:05#

 

Sachindex

Bondage-Film  4

Frauenfilmfestival  4

Frauengefängnisfilm  3

Konzentrationslager, KZ  3

Nationalsozialismus, NS-Zeit  3

Sex  3

Soldatinnen  3

Zweiter Weltkrieg  3

 

Personen

Abramović, Marina  4

Gregor, Erika  4

Gregor, Ulrich  3, 4

Hein, Wilhelm  3, 4

Jurschick, Karin  3

Schwarzer, Alice  3

Uebelmann, Cléo  3

Ulay  4

VALERIE EXPORT  2

 

Orte

New York  4

 

Künstlerische Werke

Hein, Birgit

Baby I Will Make You Sweat, 1994, Film  2

Die unheimlichen Frauen, 1991, Film  2, 3, 4

Hein, Birgit und Wilhelm Hein

Die Kali-Filme, 1987–1988, Filme  3

Hein, Birgit und Wilhelm Hein (?)

Love Stinks, 1982, Film  4

Rohfilm, 1968, Film  5

Uebelmann, Cléo

Mano Destra, 1986, Film  4

 

 

[1] Birgit Hein: Die unheimlichen Frauen, 1991, 63 min http://birgithein.de/index.php/Die_unheimlichen_Frauen

[2] Birgit Hein war bis 1993 mit dem Filmemacher Wilhelm Hein (1940 Duisburg) verheiratet.

[3] Birgit Hein: Baby I Will Make You Sweat, 1994, 63 min http://birgithein.de/index.php/Baby_I_will_Make_you_Sweat

[4] Birgit Hein, Wilhelm Hein: Die Kali-Filme, 1987–1988, 90 min http://birgithein.de/index.php/Kali-Filme

[5] Karin Jurschick (1959 Essen)

[6] Birgit Hein schrieb das Vorwort zur Buchveröffentlichung The Dominas. Bilder aus Filmen und Ausstellungen von Cléo Übelmann, Tübingen: Gehrke 1988.

[7] Das Internationale Forum des jungen Films ist eine Sektion der Internationalen Filmfestspiele Berlin – Berlinale (https://www.berlinale.de/de/home.html). Es wurde 1971 unter anderem von Erika und Ulrich Gregor initiiert.

[8] Erika Gregor (geb. 1934) und Ulrich Gregor (1932 Hamburg)

[9] Birgit Hein, Love Stinks – Bilder des täglichen Wahnsinns, 1982, 82 min http://birgithein.de/index.php/Love_Stinks

[10] Birgit Hein, Wilhelm Hein (?): Rohfilm, 1968, 20 min http://birgithein.de/index.php/Rohfilm

[11] Ulay (1943 Solingen als Frank Uwe Laysiepen – 2020 Ljubljana) und Marina Abramović waren zeitweise ein (Künstler:innen-)Paar, Ulay hat jedoch nie ihren Namen angenommen.

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