Weit entfernt von der natürlichen Erscheinung eines lebenden Vorbildes ist das von Kirchner ursprünglich als Tiger modellierte Tier zu einer Art Fabelwesen geraten, dessen Aussehen äußerst befremdlich wirkt. Von den Inventarschreibern ist der Tiger wohl auch deswegen fälschlich als sitzende Löwin interpretiert worden. Im seinem Arbeitsbericht vom Januar 1733 spricht Kirchner jedoch eindeutig von einem Tiger: „In den Monath January des 1733. Jahres ist folgendes von mier Verfertiget worden, als [...] Ein Thieger dergl. größe [Lebensgröße“ (Archiv SPMM AA I Aa, 20, fol. 49r.). Offensichtlich kannte Kirchner keinen lebenden Tiger, so dass er auf seine Phantasie und auf bildliche Darstellungen als Vorbilder angwiesen war. Entscheidend für die Aufnahme in die Königliche Sammlung war demnach nicht unbedingt eine naturgetreue Wiedergabe des Tigers, sondern eher sein exotisches und fremdartiges Aussehen. Diesem Anspruch konnte Kirchners Plastik mit der angedeuteten Mähne an den Backen, den gefährlichen Reisszähnen des geöffneten Mauls und den kräftigen Tatzen ohne Weiteres genügen, nur hat sie weder mit einem Tiger, noch mit einem Löwen irgend etwas gemein. Die Inventare der Königlichen Sammlung im Japanischen Palais von 1770 und 1779 verzeichnen unter N 253 W „acht Stück gelbliche Löwinnen, als 3 liegende und 3 Sitzende“. (Ulrich Pietsch, 2006)